Ich möchte frei leben und niemand soll mir sagen was ich zu tun habe. Wieso benötige ich überhaupt einen Staat und Gesetze?

Die ursprünglichste und engste Vereinigung mehrerer Menschen ist die Familie, deren Bestand sich gründet auf die durch die Natur dem Menschen eingegebene Liebe und Fürsorge der Gatten zueinander und zu den gemeinschaftlichen Kindern. Sie ist nicht nur die Heimat des reinsten dem Menschen beschiedenen Glückes, sondern zu gleich die Pflanzstätte der wertvollsten menschlichen Tugenden, nämlich der Treue und der selbstlosen, freiwilligen Unterordnung und Hingabe an Andere, ohne welche eine Weiterentwicklung und Vervollkommnung des Menschengeschlechtes nicht möglich wäre.

Daher bildet die Familie auch die Grundlage eines jeden Volkes: wenn ihre Bande in einem Volk sich lockern und zerfallen, ist regelmäßig auch das Volk selbst dem Untergange nah.

Aus den Familien entwickeln sich naturgemäß durch Heirat der Kinder die Geschlechter oder Stämme, d.h. die Vereinigungen der durch Verwandtschaft zusammengehörigen Familien. Die durch Gemeinsamkeit der Abstammung, Sprache und Sitte miteinander verbundenen Geschlechter und Stämme endlich bilden zusammen ein Volk. So lange ein solches Volk aber noch keinen Ackerbau treibt, sondern von der Jagd, dem Fischfang oder der Viehzucht lebt und ständig seinen Wohnsitz wechselt (sog. Nomadenvölker), bildet es noch keinen eigentlichen Staat. Sobald es jedoch seßhaft geworden, wird es, durch die Notwendigkeit, sein Gebiet gegen äußere Feinde zu schützen, gezwungen, sich näher zusammenzuschließen. Das Zusammenleben auf festen Wohnsitzen erfordert ferner die Aufstellung allgemein gültiger Vorschriften, deren Beachtung nötigenfalls gegenüber dem Einzelnen erzwungen werden muß. So entsteht das ungeschriebene und das geschriebene Recht eines Volkes, so entsteht ein Staat, d.h. eine Volksgemeinschaft, welche allgemein verbindliche Vorschriften über sich anerkennt und zur Wahrung ihrer gemeinsamen Interessen eine gemeinsame Organisation besitzt.

Wir ersehen hieraus, daß ein Staat in der Regel weder auf die Gewalt oder List der Stärkeren sich gründet noch (wie Rousseau im 18. Jahrhundert lehrte) auf Vertrag beruht. Das Leben und die Entwicklung der Völker wird vielmehr, wie das Weltall überhaupt, von den Naturgesetzen beherrscht, und diese sind es, die mit der ihnen innewohnenden Notwendigkeit die Völkergemeinschaften im Verlaufe ihrer Entwicklung zu Staaten formen, und zwar zumeist, ohne daß die einzelnen Menschen hierbei bewusst handeln.

Keine Gemeinschaft von Menschen kann bestehen ohne bestimmte, für alle Gemeinschaftsglieder verbindliche Vorschriften. Sogar die Kinder verabreden, wenn sie sich zu ihren Spielen vereinigen, zur Verhütung von Streit, feste Spielregeln. In jeder Familie muß es, wenn nicht Unordnung und Unfrieden einkehren soll, eine Hausordnung geben, nach der sich alle Familienglieder richten müssen. Noch viel wichtiger und unentbehrlicher sind naturgemäß solche allgemein gültigen Vorschriften im Staate, in welchem auf engem Raume eine große Anzahl verschieden gesinnter Menschen leben, die zueinander in zahlreichen Beziehungen verschiedenster Art stehen.

Wollte da jeder tun, was ihm beliebt, so würde die Verwirrung allgemein sein, Unordnung und Gewalttat würden herrschen, der Krieg aller gegen alle würde entbrennen. Ein kleines Beispiel aus der Geschichte verdeutlicht die Notwendigkeit eines funktionierenden Staates und einer gesetzlichen Regelung:

„Gegen Ende des 13. Jahrhunderts sank in Deutschland das kaiserliche Ansehen immer mehr. Die mächtigen Großen des Reiches thaten, was ihnen beliebte; niemand wollte mehr gehorchen. Da kein deutscher Fürst die Kaiserkrone tragen mochte, so wurden nacheinander zwei Ausländer gewählt. Das waren aber nur Scheinkaiser; sie hielten sich von Deutschland ferne und dasselbe war in der That kaiserlos. Dies war eine schreckliche Zeit; es galt kein Recht und kein Gesetz; es gab keine Richter. Jeder half sich selbst; jeden Streit entschieden die Fäuste, und die stärkste behielt Recht.“

Quelle: Realienbuch (Ausgabe für protestantische Schulen) Seite 271, München 1879. Quelle des Zitat: Deutsches Lesebuch. Für das Bedürfniß ungetheilter Volksschulen bearbeitet.