Der oberste Beamte des Reiches.
Der Reichskanzler ist der oberste Beamte des Reiches und wird vom Kaiser ernannt. Unter allen Verordnungen und Gesetzen, die der Kaiser im Namen des Reiches erläßt, muß die Unterschrift des Reichskanzlers stehen; er übernimmt damit die Verantwortung. Über die Art dieser Verantwortung ist aber nichts Näheres bestimmt.
Als oberster Reichsbeamter hat der Kanzler die Reichsgesetze auszuführen und ihre Ausführung zu überwachen, er hat die Verwaltung und Beaufsichtigung aller Angelegenheiten zu leiten, die Reichssache sind. Da der Umfang der Reichsgeschäfte im Laufe der Zeit immer mehr zunahm, wurden nach und nach einzelne Verwaltungszweige vom Reichskanzleramt losgelöst und eigenen Staatssekretären zugeteilt. Diese Staatssekretäre werden vom Kaiser ernannt, bleiben aber dem Reichskanzler unterstellt. Theoretisch verbleibt die Verantwortung beim Reichskanzler, wenn auch de facto jeder Staatssekretär sie für sein Gebiet übernimmt, indem er an Stelle des Kanzlers gegenzeichnet. So haben wir einen Staatssekretär des Reichspostamtes, einen des Reichsschatzamtes, einen des Reichsjustizamtes, einen des Reichsmarineamtes, einen Staatssekretär des Auswärtigen und einen des Innern.
Der Reichskanzler ist zugleich preußischer Bundesbevollmächtigter und als Vertreter des Königs von Preußen Vorsitzender des Bundesrates. Er ist in der Regel auch preußischer Ministerpräsident, doch ist dies rechtlich nicht zwingend. So legte der Reichskanzler Caprivi nach dem Scheitern des Zelißschen Schulgesetzes im Frühjahre 1892 sein Amt als preußischer Ministerpräsident nieder, behielt aber auf dringendes Bitten des Kaisers sein Reichskanzleramt noch bei.